Buchvorstellung

Julia Franck
Die Mittagsfrau

S. Fischer 2007

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Heike Geilen (Dresden)! Ihre Bespechung gefällt mir so gu, dass ich sie für mich übernehme. Danke. Ist das OK?

"So etwas wie mich dürfte es gar nicht geben", sagt die Protagonistin in Julia Francks Roman "Die Mittagsfrau", die kein rettendes Ufer im Strom der Menschheit findet und im Innersten erkaltet. Ein bewegendes Schicksal einer Frau zwischen zwei großen Kriegen und eine würdige Buchpreisgewinnerin und Bezwingerin der Mittagsfrau.

Diese sorbische Legende durchzieht als Metapher das ganze Leben ihrer Protagonistin Helene, eine Frau, die sich einer ungeheuerlichen, eigentlich nicht nachvollziehbaren Tat schuldig gemacht hat. Ohne Erklärung, ohne Kommentar, lässt sie ihren achtjährigen Sohn Peter 1945 allein auf einem Bahnsteig zurück. Sie sind auf der Flucht, weg aus Stettin, weg von Hunger, Elend, den verbrannten Toten im Hausflur, weg von den vergewaltigenden Horden der Russischen Armee, denen auch Helene nicht entkommen konnte.
"Ich bin gleich zurück, wart hier", sind die letzten Worte, die der kleine Junge von seiner ohnehin sehr stillen Mutter hört. Es ist eine Lüge. Helene wird nicht zurückkommen.

Bereits die ersten Seiten zwingen zum Luft anhalten. Julia Franck schreibt psychedelisch. Sie dringt in den Kopf des Lesers ein. Der Prolog ist ein Bericht des Schreckens, mit den unschuldigen Augen eines kleinen Jungen. Er schildert die letzten Kriegstage und die beginnende Nachkriegszeit in Stettin mit seiner in sich gekehrten, tief traumatisierten Mutter, die offensichtlich mit der Erziehung ihres Sohnes überfordert ist. Eine nicht ganz einfache Kindheit in der Lausitz, der Verlust ihrer großen Liebe in Berlin und die demütigende Ehe mit Wilhelm, einem Nationalsozialisten... Helene lebt, aber innerlich taub. Sie beginnt sich immer weiter in eine Sprachlosigkeit zurückzuziehen. Trost findet sie nur noch in ihrer Arbeit als Krankenschwester. Doch ist dies entschuldbar für ein derartig verachtenswertes Verhalten?

In diesem Moment schlüpft der Leser zum ersten Mal in die Rolle der Mittagsfrau, die - so sagt es die Legende - den Menschen, die zur Mittagszeit arbeiten, Wahnsinn und Tod bringt. Nur wenn man ihr eine Stunde lang von der Verarbeitung des Flachses erzählt, verliert sie ihre Macht. Nun erzählt Julia Franck keineswegs über die Herstellung von Flachs, dafür spinnt sie einen Erzählfaden über den Entwicklungsweg Helenes und verhindert damit, dass der Leser bereits nach den ersten 30 Seiten die Sichel an den Hals der "Rabenmutter" setzt.
Auf das Erzählen kommt es an: Da wo die Worte ausgehen, und das Schweigen beginnt, wirkt der Fluch. Sprache als Synonym für das Leben.
Und diese beherrscht Julia Franck beeindruckend. Nach und nach liefert sie dem Leser immer mehr Anhaltspunkte für diese schockierende Tat der jungen Frau, die mit jedem Scheitern ein wenig mehr verstummt. Die Verantwortung für ihren Sohn wird zur Belastung. Für die Liebe fehlt die Kraft.
Doch Julia Franck hat die Mittagsfrau besänftigt: Am Ende wird Helenes Tat, wenn auch nicht verständlich, so doch begreiflich.

Der Roman spannt einen großen Bogen über 30 Jahre deutsche Geschichte: von der wilhelminischen Zeit bis kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. In dieses denkwürdige historische Umfeld hat die Autorin eine berührende Familiengeschichte über drei Generationen gesetzt. Die Autorin zeichnet mit großer Einfühlsamkeit die Hoffnungen, das Glück und die Enttäuschungen Helenes nach, vom sensiblen, doch starken, klugen und liebesfähigen jungen Mädchen zur harten, hilflosen und desillusionierten Frau.
Franck hat ein großartiges Gespür für Sinnlichkeit, Abhängigkeit, Liebe, Macht und Demütigung und für die Situation. Sie passt ihren Erzählton dem jeweiligen Kontext an: eine Besitznahme des Augenblicks. Berichtet sie über die Kindheit in Bautzen noch in leichtem, unbeschwertem Ton, so wird die Zeit nach Carls Tod mit kurzen stakkatoartigen Sätzen geprägt.

All ihre divergenten Charaktere sind mit ausgeprägtem Feingefühl gezeichnet und wirken vollkommen stimmig. Hinzu kommt eine wunderbare, schnörkellose, poetische Sprache.
Helenes innere Leere wird stilistisch spürbar gemacht, ohne jedoch ihre Härten und Kanten zu entgraten. Auch eine Erklärung des Unerklärlichen gibt Julia Franck nicht. Diese emotionale Schwerstarbeit überlässt sie dem Leser. Jedoch eine ungemein lohnenswerte Aufgabe!

Julia Franck beherrscht die Klaviatur der Wörter und Sätze virtuos. Franck schreibt authentisch. Vielleicht, weil ihre eigene Familiengeschichte Parallelen aufweist.

Fazit:
"Die Mittagsfrau" ist eine fesselnde, manchmal geradezu schmerzhaft fesselnde Lektüre und auf jeden Fall ein würdiger Preisträgerroman.

21.08.2011